Neuigkeiten: Vereine geben Stärke
Interview mit Beate Bettenhausen, Vorsitzende des Bundesverbands für körper- und mehrfachbehinderte Menschen bvkm e.V.
LmBHH: Liebe Beate Bettenhausen, herzliche Glückwünsche zur Wahl als Vorsitzende des Bundesverbands für körper- und mehrfachbehinderte Menschen! Wir von Leben mit Behinderung Hamburg freuen uns sehr auf die Zusammenarbeit.
Du hast bis hierhin viel in Vereinen mitgearbeitet und Verantwortung getragen. Was waren deine ersten Vereinsschritte? Was hat dich bewogen, immer weiter ehrenamtlich tätig zu sein?
Bettenhausen: Für mich war Vereinsarbeit immer schon wichtig. Als Jugendliche war ich in Hamburg bei Youth for Unterstanding (YfU) engagiert für interkulturellen Jugendaustausch, im weitesten Sinn hatte ich schon immer Interesse im sozialen Bereich. Und als unser Sohn Sebastian klein war, hörte ich von allen Seiten, Helfende Hände ist richtig für euch. Der Verein und die Einrichtung in München, 1969 gegründet, wurde dann mit der Zeit sehr wichtig für uns.
Stärker mit dem eigenen Engagement
Als Sebastian schulpflichtig wurde 1999, war die Schule von Helfende Hände die einzige Einrichtung, die für ihn in München in Frage kam. Wir waren so beeindruckt, was der Verein alles auf die Beine stellt, zum Beispiel die Intensivpflege für den Schulbesuch. Darauf war Sebastian für seinen Schulbesuch angewiesen. Von der Behörde erfuhren wir nur, nein, es gibt keine Individualpflegekraft, man müsse seine Pflegekräfte mitbringen, wie eine Brille oder einen Rollstuhl. Helfende Hände ging damals in Vorleistung. Dann rief jemand an und lud mich zu einem Vereinstreffen ein. Etwas später kam die Frage, ob ich nicht im Vorstand mitwirken wolle. Die machten so viel, nicht nur für uns, da konnte ich gar nicht nein sagen. Und über Helfende Hände e.V., Mitglied im bvkm, bekam ich Das Mitgliedermagazin „Das Band“ vom Bundesverband.
LmBHH: Was war deine erste Veranstaltung im Bundesverband?
Bettenhausen: Das war ein Sozialpolitischer Fachtag zum Thema Barrieren bei der Intensivpflege in Einrichtungen der Behindertenhilfe. Wir hatten schon an so viele Türen geklopft und waren nicht weitergekommen. Der bvkm machte dann das Thema öffentlich. Da konnte ich zum ersten Mal erleben, wie etwas in Bewegung kommt, wenn der Bundesverband es unterstützt.
LmBHH: Haben Eltern (und Geschwister) von Menschen mit Behinderung in Vereinen und im Bundesverband Einfluss?
Bettenhausen: Ja, genau. Sie werden aktive Player. Und es ist auch ein Vorteil, dass man sich zusammenschließen kann und Expertenwissen erhält, sowohl von anderen Eltern als auch von Mitarbeitenden. Und es entlastet zu sehen, dass man nicht immer das Rad neu erfinden muss. Man sieht ja so viel besser, was es schon gibt. Durch die Vernetzung können Dinge, die an einer Stelle brennen, auf noch größerer Bühne bewegt werden und andersherum bekommt man Entwicklungen mit und guckt sich Sachen ab. Dieser Pingpong-Effekt ist aus meiner Sicht eine tolle Chance für Familien.
Welche Rolle haben Selbstvertretende dabei?
Bettenhausen: Es geht ja immer um ihre Interessen. Da darf man nichts überstülpen. Ich finde inklusive Wohnprojekt toll und hätte mir das sehr gut vorstellen können. Sebastian hatte sich verschiedenes angeguckt und erst „nee“ gesagt und dann schließlich wollte er ein Angebot nutzen. Das ist nun eine besondere Wohnform. Da ist er der Taktgeber.
LmBHH: Der Vorstand des bvkm hat jetzt zwei Selbstvertretende, das ist bestimmt klasse für die kommende Arbeit. Du erlebst bei Helfende Hände wie wir bei Leben mit Behinderung Hamburg ja auch die Zusammenarbeit von Fachleuten und Familien. Was ergeben sich daraus für Chancen?
Bettenhausen: Das Zusammenwirken hat enorme Kraft. So haben wir damals, zusammen mit dem bvkm eine Gesetzesänderung im SGB V herbeigeführt, wo die Zielgruppe unberücksichtigt war. Je schwieriger es für Menschen mit Behinderung und Assistenz ist, umso wichtiger ist die Zusammenarbeit. Über das, was ich in der Intensivpflege erlebt habe, könnte ich ein eigenes Buch schreiben. Und so ist es im Teilhaberecht, zum Beispiel mit der Entwicklung im Alter. Eigentlich sollten Einrichtungen der Behindertenhilfe Menschen ein Leben lang begleiten können. Wir müssen jetzt gemeinsam dafür eintreten, dass es keine nachteilige Entwicklung gibt und das Pflegeheim reichen soll.
LmBHH: Der Bundesverband arbeitet als Elternorganisation mit klassischen Eltern-Selbsthilfevereinen und (Förder-)Mitglieder der Dienste und Einrichtungen für Menschen mit Assistenzbedarf an Gesetzesentwicklungen mit, damit Menschen mit komplexen Behinderung bei neuen Regelungen immer mitgedacht werden. Worauf muss der bvkm hier in Zukunft ein besonderes Auge haben?
Bettenhausen: Bei der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes sind wir in München nicht so schnell. Vielleicht hat das sogar Vorteile. Wir müssen aufpassen, dass nicht Dinge, die mühsam erreicht wurden, nun mit den neuen Rahmenbedingungen aufgegeben werden. Das gilt auch für die inklusive Lösung in der Kinder- und Jugendhilfe.
Für Teilhabe bei Menschen mit komplexen Behinderungen anfangen
Es geht bei allen Reformen darum, dass es sich nicht verschlechtert. Bevor man ein neues System ans Netz nimmt, müssen Sicherheiten dafür bestehen, dass Bedarfe, Bedürfnisse und Wünsche gedeckt werden. Im Idealfall soll es ja eine Verbesserung bringen. Ich glaube tatsächlich, dass Menschen mit komplexen Behinderung nicht gesehen werden. Es wäre aber gut, bei diesen Menschen den Anfang zu machen. Dann würde es auch für andere funktionieren.
LmBHH: Welches Buch aus dem Verlag des bvkm ist dein Lieblingsbuch?
Bettenhausen: Mein Alltime-Favorite ist „Basale Stimulation“ von Andreas Fröhlich. Als wir noch in Köln wohnten und ich von dem bvkm und Leben Pur noch gar nichts wusste, war ich in einer Buchhandlung und suchte nach etwas, um mit der neuen Situation besser umgehen zu können. Da stand es zufällig. Es elektrisierte mich gleich beim ersten Lesen: Jemand versteht mich, beschreibt genau das, was ich hier empfinde, ein Professor. Das tat so gut, das Verständnis und etwas in der Hand zu haben, praktische Hinweise zum Abbau von Barrieren bei komplexen Behinderungen. Das war ein Erweckungsmoment.
LmBHH: Was sind jetzt nach der Corona-Zeit die wichtigsten Arbeiten im Bundesverband?
Bettenhausen: Wir werden nicht nachlassen, für die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung einzutreten, in allen Regionen in Deutschland. Wir bringen diese Erwartung nach vorn. Bisher sind die Reformen belastend, zum Beispiel die enorme Bürokratie. Das ist der bisher schwer verdauliche Teil des Kuchens Inklusion. Wir brauchen auch die andere Hälfte und die schöne Dekoration, damit Teilhabe wirklich ankommt und es allen gut schmeckt.
Ich werde mich jetzt erstmal einarbeiten, alle und alles kennenlernen und mit planen, wie es weitergeht. Wir mischen uns auch in Zukunft beharrlich ein. Selbstvertretung ist hier wichtig aber auch das Eintreten von Eltern, Fachkräften, Angehörigen, damit der Personenkreis, der sich nicht 100 % selbst vertritt, nicht vergessen wird. Das darf nicht so mühsam sein. Richtig ungut ist es, wenn Eltern in eine Rolle als Bittstellende geraten. Da gucken wir hin, informieren und erheben gemeinsam die Stimme.
Interview: Kerrin Stumpf